Zur Erwerbslosigkeit im Aufschwung, Aktionen organisierter Erwerbsloser und den unfairen Bemerkungen dazu von Anne Seeck (“Erklärung einer Kritik – Aufstand der Armen? Fehlanzeige!” in der online-Zeitung trend), einem bitteren Beispiel dafür, wie Solidarität von unten nicht geht
(Der folgende Beitrag ist eine Replik auf Anne Seeck. Die trend-online-Redaktion, deren Mitglied A. Seeck ist, lehnte es ab, die Replik zu veröffentlichen.)
In trend online, Nr. 01/11 fanden sich viele Worte von Anne Seeck zum “fehlenden Aufstand der Armen”. Dort wurde gezeigt: viel schreiben heißt nicht gleich, viel Erkenntnis-trächtiges oder Hilfreiches beizutragen. Vielmehr ging es dort in‟s Gegenteil. Die Autorin rückte die Aktivitäten Erwerbsloser unnötig in schlechtes Licht, verlor sich in Widersprüchen und arbeitete mit Falschdarstellungen um ihre negativen Darstellungen zu vervollkommnen. Politische Inhalte der Aktionen von Erwerbslosen unterschlägt sie. Politische und ökonomische Rahmenbedingungen der Aktivitäten von Erwerbslosen und Niedrigverdienenden zieht sie in ihre Darstellung nicht ein. Zu vielem aus der “Erwerbslosenszene” äußert sie sich unsolidarisch und herablassend. Vorhandene Qualität würdigt sie nicht wirklich. Wenn sie beklagt, dass sich dort zu wenige engagieren, wird das spätestens nach ihrem Beitrag viele nicht mehr wundern. Sie verstand den Beitrag als Aufforderung zur “Reflexion”. Wir geben diese Aufforderung zurück.
Warum wir die eigenen Trennlinien überwinden müssen
Viele Erwerbslose wissen, dass es für sie unter den jetzigen Verhältnissen kein gutes Leben geben wird. Sie wissen: das wird nur möglich bei einer ganz anderen gesellschaftlichen Organisation von Arbeit. Was wir noch brauchen sind vernünftige Maßstäbe für die Verteilung des von allen erzeugten Reichtums, Gleichheit statt Ungleichheit, ein weltweites Zusammengehen derer, die von den heutigen Verhältnissen nicht profitieren. Viele organisierte Erwerbslose wissen das nicht nur, sondern handeln auch danach. Sie erkennen immer mehr, dass es dafür das Überwinden bestehender gesellschaftlicher Schranken braucht, die in der BRD und weltweit Menschen voneinander trennen. Solche Trennlinien verlaufen auch zwischen AktivistInnen, die in unterschiedlichen Handlungsfeldern für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Und es gibt immer mehr organisierte Erwerbslosengruppen und deren Netzwerke, die sich bemühen, eigene Grenzen und Trennlinien zu überwinden und neue Bündnisse zu schaffen. Dazu rechnen wir auch das Krach-Schlagen-Bündnis1 und die das Bündnis unterstützenden Initiativen.
1 Das Krach-Schlagen-Bündnis vereint das ABSP (Aktionsbündnis Sozialproteste), die ALSO (Arbeitslosen-selbsthilfe Oldenburg e.V.) und den durch die ALSO vertretenen Regionalverbund der Erwerbsloseninitiati-ven Weser-Ems, die BAG PLESA (Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen – Gegen Einkom-mensarmut und soziale Ausgrenzung e.V.), das Erwerbslosenforum Deutschland, die KOS (Koordinierungs-stelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen), Tacheles e.V. in Wuppertal und die ver.di-Erwerbslosen.
Prekäre und Einkommensarme im Land der Gewinner
Erwerbslose leben in der BRD in einer reichen Gesellschaft, deren Eliten sich zur Leitlinie gemacht haben – komme was da wolle – ihren Unternehmen über Lohn-, Sozial- und Steuersenkungen weltweit Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Die Verarmung zunehmender Bevölkerungsteile in der BRD ist die andere Seite wirtschaftlicher Erfolge vieler Unternehmen. Seit Monaten profitiert die bundesdeutsche Exportwirtschaft zudem von den Zahlungsschwierigkeiten von Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal. Diese verbillig-ten den Euro gegenüber dem US-Dollar und anderen Währungen (z.B. Chinas), was für die bundesdeutsche Wirtschaft weitere Exportvorteile in den Nicht-Euro-Raum brachte. Während diese Unternehmen als Gewinner durch die internationale Wirtschaftskrise gehen, Extra-Gewinne einstreichen und (Leih-)Arbeitskräfte einstellen, bekamen Erwerbslo-se und Niedrigverdienende die Gegenrechnung bei der Auseinandersetzung um die Hartz-IV-Sätze präsentiert.
(Leih-)Arbeit statt deutliche Hartz-IV-Anhebung
Die SPD verkündete in diesem “Aufschwung“, sie stehe zuallererst für die Schaffung von Arbeitsplätzen und „nicht (für) die Erhöhung von Sozialleistungen“2, sprich ein menschenwürdiges Leben mit Sozialhilfe. Auch entscheidende Teile der DGB-Gewerkschaften verweigerten in diesem Sinn eine spürbare Unterstützung für die deutliche Anhebung der Regelsätze. Arbeit ist Trumpf, besonders im Aufschwung, und wurde gegen menschenwürdige Mindesteinkommen ausgespielt. Die gesellschaftliche Debatte wurde von den Mindestanforderungen eines menschenwürdigen Lebens wegverlagert, ohne aber tatsächlich Armutslöhne auszuschließen.
2 Aus einem Schreiben der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der SPD-Fraktion im Bundestag vom 2.11.2010, S. 5; siehe www.regelsatzerhoehung-jetzt.org (Rubrik „Antworten der MdB“).
Wer sich in dieser gesellschaftlichen Stimmungslage für ein besseres Leben für alle, auch für Erwerbslose und Einkommensarme zu Wort meldet, braucht sich um sein Alleinstellungsmerkmal keine Sorgen zu machen. Für uns Erwerbslose waren das denkbar schlechte ökonomische Rahmenbedingungen für die Regelsatzauseinandersetzung. Das Ergebnis ist bekannt. Umso mehr schätzen wir die Aktivitäten und das Engagement der vielen kleinen Gruppen, Einzelpersonen und Netzwerke, die sich dieser Politik und gesellschaftlichen Stimmung entgegenstellen und in den letzten Jahren entgegen gestellt haben – gegen alle Anfeindungen und Angriffe von Politik, Interessenverbänden, in den Medien und oft selbst im persönlichen Umfeld.
Warum wir zur Vielfalt in der Basisarbeit von Erwerbslosen stehen
Wir sehen, dass viele Erwerbslose nach ihren Kräften, Interessen und Möglichkeiten Gegenwehr leisten: in der Unterstützung und Beratung von Erwerbslosen, bei Aktionen z.B. vor und in den Ämtern, in der Informations-, Dokumentations- und Analysearbeit, im Aufbau und Betrieb von Treffs und Zentren, in kleinen Arbeitskreisen, in der Nachbarschaft, in der Bündnis- und Vernetzungsarbeit, bei den vielfältigen Formen gelebter und erfahrbarer direkter Solidarität. Wir setzen auf diese Formen der solidarischen und klugen Organisation und Vernetzung von unten auf dem Weg zu einer solidarischen Gesellschaft, zu einem Leben ohne Unterdrückung, Not, Ausbeutung und Ausgrenzung – weltweit, mit und für alle. Denn wie anders wäre dies vorstellbar? Wir sind der festen Überzeugung, dass die unterschiedlichsten Formen dieses Engagements sich gegenseitig ergänzen und mit einem langen Atem verwirklicht werden müssen, um gesellschaftlich wirken zu können. Denn nur Leben und Handeln in praktizierter Solidarität kann die Fundamente für eine solidarische Gesellschaft schaffen. Wir sehen aber auch, dass die heute vorhandenen Ansätze und Initiativen dafür noch unzureichend sind, doch diese Feststellung kann die Hochachtung für all„ das nicht schmälern, was auf die Beine gestellt wird. Aus unserer Sicht ist nahe liegend, diese Ansätze zu stärken und zu verbinden. Auch dazu arbeiten wir im Krach-Schlagen-Bündnis.
Wo bleibt die Fairness?
Umso mehr traf uns Anne Seeck‟s Beitrag in trend online 01/11 unter der Überschrift “Aufstand der Armen? Fehlanzeige!”. Sie behauptet zwar, sie wolle “nur aufrütteln” aus Interesse daran “dass die Sozialproteste weiter gehen”. Warum diffamiert und diskreditiert sie dann aber Aktivitäten Erwerbsloser, warum spielt sie unterschiedliche Gruppen von Erwerbslosen faktisch gegeneinander aus? Wir weisen in diesem Beitrag auf wesentliche ihrer Falschdarstellungen hin.
Beispiele:
• Zur Erwerbslosendemonstration am 10.10.2010 in Oldenburg (Motto “Lieber Krach schlagen als Kohldampf schieben”) behauptet sie: „Allerdings fehlte wieder mal der Internationalismus.“ Hat sie den Aufruf zur Demo und die dort gehaltenen Reden nicht gelesen? „Wir wollen faire, gerechte und nachhaltige Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Menschen auf der ganzen Welt!“ Dieser Gedanke taucht im Demo-Aufruf mehrfach auf. In den Redebeiträgen auf der Demo wurde er ausführlich begründet. Kurz gefasst formulierten wir “Hartz IV ist schlecht für alle”. Mit welchem Interesse verschweigt das die Autorin?
Auch weil auf der Demo am 10.10. nicht ausdrücklich erwähnt wurde, dass das Krach-Schlagen-Bündnis das “Topf-Schlagen” nicht erfunden hat, „fehlte wieder mal der Internationalismus“ – so Seeck. Ein Blick auf die Seite (www.krach-statt-kohldampf.de) hätte ihr gezeigt, dass auch über den Ursprung der Aktionsform informiert wurde. Und dann führt sie gleich noch an, dass in Argentinien “die dortigen Erwerbslosen, die piqueteros, radikalere Aktionsformen wie Blockaden und Besetzungen wählten”, was auf der Demo in Oldenburg auch hätte vermittelt werden sollen.
Warum will sie eine Demonstration, die endlich einmal laut und selbstbewusst war und vielen auch Spaß gemacht hat, dadurch diskreditieren, dass sie diese einer radikaleren und in Argentinien breit getragenen Aktionsform gegenüberstellt? Ihre Begründung fehlt. Was hätten Erwerbslose im Oktober 2010 erfolgreich blockieren und besetzen sollen und wie lange hätten sie das durchhalten sollen? Hat die Autorin die Einschätzung, dass breite Bevölkerungsteile diese Aktionen mitgetragen hätten (nur dann hätten diese Sinn gemacht) und wenn ja, wie kommt sie zu dieser Erwartung? Sie erklärt nicht, warum sie die historischen Bedingungen in Argentinien und in der BRD für vergleichbar hält (an anderer Stelle ihres Textes muss der Aufstand in Tunesien zum Vergleich herhalten). Seeck‟s Gegenüberstellungen mögen rhetorisch geschickt sein. Tatsächlich sind sie unreflektiert, unredlich und unhistorisch.
Die Autorin selbst macht im Beitrag wider Willen klar, warum sie die internationalen Aspek-te der Demo in Oldenburg nicht nennen wollte. Hätte sie das nicht getan, hätte sie in ihrem Beitrag später der “Szene” nicht vorhalten können, auf den Nationalstaat fixiert zu sein, “nicht über den Tellerrand” zu sehen, nicht von den „Luxusproblemen“ der Armen in Deutschland, vom Konsum der Armen in Deutschland „auf Kosten der Armen in der Peri-pherie“ schreiben können, worauf die Erwerbslosennetzwerke keine Antworten geben würden. Wollte sie nicht sehen, wer in Oldenburg demonstriert hat? Die mitfahrende Zugmaschine der Milchbauern als Ausdruck ihrer Mitarbeit und politischen Unterstützung kann sie nicht übersehen haben. GenossInnen, die eine Woche vor der Oldenburger Erwerbslosen-Demo in Bremen die Proteste gegen die deutschen Einheits-Feiern in Bremen mit organisiert haben, sagten, sie hätten sich in Bremen eine Teilnehmerschaft gewünscht, so breit und bunt wie in Oldenburg. Statt hinzusehen beklagt sie sich darüber, “hinter einer 80-Euro-Forderung für Le-bensmittel hinterher zu laufen”. Offenbar hat die Autorin nicht verstanden, dass seitens der Demonstrierenden mit den Billig-Preis-Lebensmitteln ausdrücklich die weltweite Verarmung von Landwirten und in Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln Arbeitenden zum Thema gemacht wurde. Mit dieser Forderung werden die Gemeinsamkeiten von Erwerbslosen z.B. mit den Forderungen von Milchbauern nach fairen Preisen bis hin zu den Landlosenbewegungen gezeigt. Dass das geht, haben wir erlebt. Um das zu ermöglichen, wurde entschieden, mit der Ernährung einen wichtigen Teil der alltäglichen Bedürfnisse herauszuheben. Und noch eine notwendige Richtigstellung zum Beitrag von Seeck: Die Forderung lautete „Anhebung der Regelleistung um mindestens 80 Euro allein schon für die Ernährung“. Wer ohne Polemik darauf schaut, wird schnell erkennen, dass es bei uns auch Kritik am Mangel in anderen Lebensbereichen gibt, die wir nicht verschweigen. An anderer Stelle schreibt sie: „Lange habe ich für eine Breite des Protests bzw. Widerstands plädiert, …” – warum erkennt sie nicht an, dass andere das praktizieren, wofür sie plädiert?
Lieber wirft sie scheint‟s anderen vor (wem genau, das schreibt sie nicht) “permanent bundesweit Entscheidungen (zu) treffen, aber oftmals nicht gewählt zu sein”. Auch diese Verunglimpfung könnte dort nicht so stehen, wenn sie den LeserInnen nicht verschwiegen hätte, dass es regionale und bundesweite Erwerbslosenzusammenhänge waren, die die Krach-Schlagen-Demo als Demo von Erwerbslosen gemeinsam entwickelten. Ergebnis der gemeinsamen Planung war, dass dort Erwerbslose selbst gesprochen haben. Es gab keine Auftritte von RednerInnen von Parteien oder Gewerkschaften. Die Reden der Demo waren abgestimmt und einvernehmlich getragen von den bundesweiten Erwerbslosennetzwerken zusammen mit dem Regionalverbund Weser-Ems der Erwerbsloseninitiativen, der Oldenburger Anti-Ra, den die Demo unterstützenden oppositionellen MilchbäuerInnen wie auch der örtlichen autonomen Linken. Seeck schreibt zur Demo: “Man steckte wieder tief im deutschen Hartz IV-Sumpf”. Wenn die Krach-Schlagen-Demo Ausdruck von dem ist, was Seeck verächtlich “Hartz IV-Sumpf” nennt, sollten wir diese Vokabel zum Kampfbegriff machen.
• Wo Seeck über die Auswertungs- und Dokumentationsarbeit durch Erwerbslose schreibt, stellt sie dies unter die Überschrift “Politische Arbeit von Akademikerlinken statt Unruhe der Armen”. Merkt Seeck nicht, dass sie Gruppen von Erwerbslosen gegeneinander ausspielt? Was will Seeck damit sagen? Wenn Erwerbslose aus ihrer Untersuchungsarbeit z. B. ableiten, dass es nicht mehr Geld kosten würde, Ein-Euro-„Jobs“ durch sozialversicherte Arbeit zu ersetzen („Ein-Euro-‚Jobs‘ ersetzen!“, http://www.hartzkampagne.de/), dass also die immer wieder angeführten finanziellen Gründe sinnvollen Alternativen gar nicht entgegenstehen und Wege aufgezeigt werden, wie Tätigkeiten mit minderem Rechtsstatus sofort ersetzt werden könnten, kommentiert Seeck das so:
“Man schreibt Konzepte für eine nicht vorhandene Basis und tingelt damit durch die Republik zu EntscheidungsträgerInnen der Wohlfahrtsverbände. Und wird nicht ernst genommen.”
Die Wahrheit ist: Niemand ist mit dem Konzept „Ein-Euro-‚Jobs„-Ersetzen!“ zu EntscheidungsträgerInnen der Wohlfahrtsverbände getingelt (wohl aber zu Erwerbslosengruppen in Köln, Lübeck, Greifswald u. a. m.). Mit der Behauptung einer Nähe zu Wohlfahrtsverbänden lassen sich leicht Aversionen erzeugen nach dem Motto: iiih pfui, die haben’s mit denen. Es bleibt die Frage: Was treibt Seeck hier an, Gruppen Erwerbsloser gegeneinander auszuspielen? Dass sie Inhalt und Vorzüge des Konzepts im Dunkeln lässt, verstärkt diesen Eindruck nur.
• Auch den Versuch, eine breite gesellschaftliche Zustimmung zur Abschaffung eines zentralen Druckmittels gegen Erwerbslose zu erreichen, die Initiative für ein Sanktionsmoratorium, sucht Seeck zu diskreditieren. Sie schreibt:
„Man sucht BündnispartnerInnen in der Mitte und geht Kompromisse ein. Statt der Abschaffung der Sanktionen wird ein Sanktionsmoratorium gefordert.“
Diese Stimmungsmache ist dreist. Die eindeutige Haltung der AG Sanktionen der Berliner Kampagne gegen Hartz IV ist ihrer Stellungnahme auf der Website des Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium (www.sanktionsmoratorium.de Rubrik „Bündnis“) zu entnehmen. Dort heißt es: „Daraus kann es aus unserer Sicht nur einen Schluss geben: Der Sanktionsparagraph muss aufgehoben werden.“ Würde es eher das „Chaos der Unterschicht stiften“, wenn die reine Forderung nach der Abschaffung der Sanktionen wie ein Schild vor sich hergetragen wird?
Der Kampagne für ein Sanktionsmoratorium liegt die politische Einschätzung zugrunde, dass die sofortige Abschaffung aller Sanktionen gesellschaftlich nicht in einem Schritt durchzusetzen ist. Dass aber genug Druck entwickelt werden könnte für deren Aussetzung, wenn – angestoßen durch ein gesellschaftlich-breites Bündnis – eine grundlegende gesellschaftliche Debatte über Sanktionen in Gang käme.
Warum erweckt Seeck den Eindruck, es gehe um “Anbiederung”? Wie will sie gesellschaftliche Änderungen erreichen, wenn nicht über Mehrheiten, wozu wohl auch einige Teile der “Mitte” kommen müssten? Ohne diese wird es nicht gehen, zumindest so lange das “Chaos der Unterschicht” auf sich warten lässt. Warum Seeck auch hier Gruppen ge-geneinander ausspielt – die “Mitte” und die “Unterschicht” – erklärt sie nicht. Wen sie zu “Mitte” und “Unterschicht” rechnet auch nicht. Ohne genauere Unterscheidungen lässt sich von jeher besser Stimmung machen. Den Aufruf für ein Sanktionsmoratorium hat übrigens auch Anne Seeck unterschrieben. Wusste sie da nicht, was sie tat?
• Rechtliche Auseinandersetzungen Erwerbsloser mit den staatlichen Behörden durch die Brille von Anne Seeck
Da moniert sie „Bleiwüstenflugblätter mit vielen Paragraphen“ und zitiert aus einem vierseitigen Informationsblatt aus einer Zeit, als die ersten Alg-II-Bescheide ergangen waren. Infoblätter waren nach der Einführung von Hartz IV dringend notwendig. Der Vorwurf des „Rechtsexpertentums“ – Seeck spricht sogar von der „auf dem Gesetzestrip befindliche(n) Erwerbslosenszene“ – kommt immer wieder. Hat sie vergessen, dass es unzählige Gesetzesänderungen gab? Hätte man die Rechtsberatung den JobCentern und Wohlfahrtsverbänden überlassen sollen? Hat sie nicht selbst in den letzten Jahren die Unterstützung von Menschen mit Rechtskenntnissen benötigt?
Später redet sie der Beratung von unten das Wort. Warum macht sie sich zuvor über diejenigen lustig, macht die verächtlich, die diese Beratung machen? Warum kann sie nicht das, was ihr vielleicht nicht gefällt, was ihr selbst vielleicht keinen Spaß macht, nicht ein-fach stehen lassen?
Am Ende ihres Beitrags listet sie unter der Überschrift „Was sind die Alternativen?“ Beispiele auf, denen sie entgegen aller vorhergehenden Polemik offenbar doch eine gewisse Wirksamkeit zubilligt. Und unter „Schon vorhandene Alltagspraxis“ werden viele Aktivitäten als „wichtig“ und „sinnvoll“ klassifiziert, gegen die sie zuvor polemisiert hatte. Nur erhalten sie jetzt die markige Bezeichnung „Alltagskämpfe“. Ob sie die offenkundigen Widersprü-che zum zuvor Geschriebenen nicht bemerkt?
Am Ende bleibt vor allem eine Erkenntnis aus Seeck‟s Beitrag:
Falschinformation und Verunglimpfung ist kein Mittel, die Aktivitäten und Attraktivität von Erwerbslosenlosengruppen und deren Zusammenhängen zu stärken. Deren gesellschaftliches Eingreifen für ein Leben ohne Demütigung und Not für alle sind in ihrer Vielfalt Voraussetzung für die Stärkung von Sozialprotesten. Seeck vermag das nicht zu sehen oder will es nicht sehen.
Auf die Idee, verschiedenen Aktivitäten mit gutem Grund ihren jeweiligen Platz zu lassen, kommt Seeck nicht.
Wer gehofft hatte, am Ende von Seeck‟s langem Beitrag doch noch etwas über wirksame Alternativen zu der von ihr als verwerflich dargestellten „Politik der kleinen Schritte“ zu erfahren, wird enttäuscht.
„Statt Forderungen an den Staat, die Systemfrage stellen!“ – Dieser Schluss der Autorin in ihrem Beitrag bleibt nach allem, was sie zuvor geschrieben hat, parolenhaft leer.
Claudia Kratzsch (BASTA, BAG PLESA), Frank Jäger (Tacheles e.V., Bündnis für ein Sanktionsmora-torium), Angelika Wernick (Berliner Kampagne gegen Hartz IV, Bündnis für ein Sanktionsmoratorium), Guido Grüner (ALSO), Jürgen Freier (Berliner Kampagne gegen Hartz IV, Bündnis für ein Sanktions-moratorium)
Eine Antwort zu: Trennlinien überwinden! – Der Kampf Erwerbsloser gegen Armut, Demütigung und Not hat viele Gesichter